Waisen in Deutschland

Waisen in Deutschland – kein Thema mehr?

Mutter und Vater im Kindesalter zu verlieren, dieser Vorstellung haftet von jeher etwas Schreckliches an. In Deutschland leben 800.000 Kinder, die einen oder beide Elternteile verloren haben. Doch ihr Schicksal ist in der Öffentlichkeit nicht präsent.

Warum auch, möchte man meinen. Die Zeiten in denen Waisenkinder in Heimen oder auf der Straße landeten, gehören der Vergangenheit an. Schließlich greifen in Deutschland die sozialen Sicherungssysteme.

Doch die staatliche soziale Absicherung reicht nicht aus, um diesen Kindern und Jugendlichen einen fairen Start ins Leben zu ermöglichen. Nach einer Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung haben Kinder, die in jungen Jahren ein Elternteil verlieren, eine schlechtere Allgemein- und Ausbildung. Sie fangen eher mit einer Berufsausbildung an und müssen auch finanziell früher für sich sorgen als Nicht-Waisen. In drei von vier Fällen stirbt nämlich der Vater und Hauptversorger.

Oftmals bedeutet dieser Verlust auch eine soziale Ausgrenzung. Verwitwete Mütter und Väter fallen durch die gesellschaftlichen Raster, ihre Kinder werden ständig daran erinnert, dass in ihrem Familienleben vieles anders ist als bei Gleichaltrigen. Der Verlust eines oder beider Elternteile gehört fortan zu ihrer Biographie, beim Abholen im Kindergarten, beim Fußballspiel, am Elternabend.

Die Johannes Kuhn-Stiftung gehört zu den wenigen Stiftungen in Deutschland, deren Fokus auf der Unterstützung von Voll und Halbwaisen liegt. Seit 30 Jahren helfen wir diesen Kindern und Jugendlichen, die nach wie vor ohne Interessenvertretung und ohne Lobby sind. Unsere Angebote kommen Betroffenen im gesamten Bundesgebiet zugute. Dabei fühlen wir uns Hamburg als Sitz der Stiftung in besonderem Maße verbunden. Auch deshalb ist es unser stetiges Bemühen, unseren Schützlingen die Hansestadt näher zu bringen. Von hier aus erhalten sie die finanzielle Unterstützung, die Ihnen einen fairen Start ins Leben ermöglichen soll.

Sandro wurde 1994 in Guben/Brandenburg geboren. Im Alter von 12 Jahren verliert Sandro seinen Vater. Durch den Tod des Familienoberhauptes geraten Sandro und seine Mutter auch finanziell in Not. Im Jahr 2008 wendet sich die Mutter hilfesuchend an die Stiftung. In den darauffolgenden sechs Jahren kann Sandro mit unserer Unterstützung unbeschwert von finanziellen Sorgen seine Schulausbildung absolvieren.

Gemeinsam gelingt, was zwischenzeitlich keiner für möglich gehalten hätte: Sandro besteht 2013 erfolgreich sein Abitur am Gymnasium im Stift Neuzelle und besitzt damit die optimale Voraussetzung für den Start in eine selbstbestimmte Zukunft.

Mittlerweile befindet sich Sandro in der Grundausbildung bei der Bundeswehr und absolviert seinen freiwilligen Wehrdienst in der Fallschirmjägerkaserne in Seedorf – „also ganz in Ihrer Nähe“, wie seine Mutter betont.

Außerdem ist er im Auswahlverfahren der Polizeihochschule des Landes Brandenburg. Dank Abitur stehen Sandro nun sowohl bei der Bundeswehr als auch bei der Polizei alle Türen für eine gehobene Laufbahn offen.

Emma kennt ihren Vater nur von Fotos. Er stirbt vor ihrer Geburt. Ein schwerer Schicksalsschlag für die werdende Mutter. Denn zusätzlich zur tiefen Trauer belasten die Familie auch noch Existenzängste. Emma kommt 2009 in Seevetal zur Welt. Das kleine Mädchen schreit viel, die junge Witwe ist häufig am Rande der Belastbarkeit.

Sie sucht nach Hilfe, nach finanzieller und seelischer Unterstützung. Seit 2012 begleiten wir die heute fünfjährige Emma und ihre Mutter durch Höhen und Tiefen. Schon im Kindergarten bekommt Emma zu spüren, dass in ihrem Leben vieles anders ist als bei anderen Kindern.

Auf die Fragen der Tochter weiß die Mutter häufig keine Antwort. Sie macht die Erfahrung, die wir in persönlichen Gesprächen immer wieder zu hören bekommen: Im Freundes- und Bekanntenkreis gibt es meist keine Leidensgenossinnen – und damit keine Möglichkeit, sich auszutauschen.

Bei uns findet Emmas Mutter ein offenes Ohr für ihre großen und kleinen Sorgen. Neben dem engen Kontakt, den die Mutter zu uns pflegt, spielen vor allem unsere Erlebniswochenenden eine wichtige Rolle im Leben von Mutter und Tochter. Emma zehrt von dem Erlebten und schwärmt anschließend von den „tollen Urlauben“.

Hüseyin muss schon früh lernen, Verantwortung zu übernehmen. Er lebt mit seinem Vater und seiner Schwester in einer kleinen Wohnung in Hamburg Osdorf. Seine Mutter ist vor sechs Jahren gestorben. Die türkisch-stämmige Familie lässt sich anfangs nur zögerlich auf unsere Hilfen ein. Vor allem der Vater zeigt sich in den ersten Jahren sehr zurückhaltend und misstrauisch. Doch Hüseyin hält den Kontakt zu uns.

Seit vier Jahren wird die Familie mittlerweile von uns unterstützt. Dazu zählen u.a. monatliche Beiträge für den Sportverein und die Übernahme von zusätzlichen Kosten, wie z. B. Sportkleidung und -schuhe. Auch das Angebot, an einem Segelkurs auf der Alster teilzunehmen, nimmt der heute 14-Jährige an. Zum Abschluss des Kurses waren alle Familien eingeladen, gemeinsam zu feiern. Hüseyin wird von seinem Vater und seiner Schwester begleitet, die Familie lernt die Menschen „hinter“ unserer Stiftung kennen und fasst Vertrauen.

In der Zwischenzeit steht auch der Vater im Austausch mit uns. Damit ist es uns möglich, noch gezielter auf die Bedürfnisse der Familie eingehen zu können. Wir haben ein Fahrrad für Hüseyin finanziert und ihm einen langgehegten Wunsch erfüllt: Einen eigenen Computer.